Bericht in der Görlitzer Presse 2005
Biblisches Haus: Die zweite Erzählnacht, amüsant und bewegend
Die biblischen Szenen an der Sandsteinfassade des Biblischen Hauses in Görlitz gehören zum Bedeutendsten, was die Altstadt zu bieten hat. Verregnet wie die erste Erzählnacht vor dem fast berühmtesten Görlitzer Renaissancehaus im Bibeljahr 2003 war auch die zweite am Vorabend des Tags des offenen Denkmals. Aber ein ebensolcher Erfolg.
„Die Geschichten der Bibel müssen hinaus auf die Straße, wir müssen sie aus dem Dunkel der Kirchen holen!“ So lebendig und mit Euphorie räumt der Tuchhändler Heintze die Zweifel des Bildhauers Kramer aus, „eine neue Zeit ist angebrochen“. Und heute, vor den nun fast ein halbes Jahrtausend alten Bildern in Stein, bekommt man wieder auf eine neue Weise das noch viel Ältere geboten.
Die je fünf Episoden aus dem Alten und dem Neuen Testament haben mit Altertümlichkeit nichts zu tun, sondern lassen sich in allen Varianten bunt erzählen. Das wurde den hundert Zuhörern schnell bewusst, als sich Susanne Niemeyer und Jochem Westhof erst als Bauherr und Baumeister des Hauses unterhielten und dann mit aller Leichtigkeit in die Rollen von Adam und Eva, Abraham, Sarah und Isaac, Maria und Josef oder Jesus und Johannes schlüpften.
„Licht soll werden, und es wurde Licht“, ist aus der Finsternis zu hören. Und wie von selbst erhellt sich die erste Szene, die Erschaffung der Welt, bevor sich das Paradies mit Leben füllt, die ersten Menschen süß-saure Äpfel essen und bald ihrem verlorenen Frieden nachtrauern. Im Publikum wird mit Sarah aufgelacht, als diese höchst amüsiert die Botschaft vernimmt, sie solle noch ein Kind bekommen. „Abraham! In unserm Alter, wir sind über siebzig!“, ruft die Sprecherin, und mit ebenso modernen Worten, mit Witz und dennoch allem Respekt vor der Heiligen Schrift erzählt sie weiter. Vom eifersüchtigen Josef, der die schwangere Maria für frech und verlogen hält und sich erst von dem immer geflüsterten „Fürchte dich nicht!“ im Traum überzeugen lässt. Oder von Johannes dem Täufer, der die Leute ins Flusswasser taucht und nur vor einem niederkniet. „Jesus heißt er übrigens“, beendet Susanne Niemeyer pointiert die Bibelgeschichte.
Als die Straße im Regen schon leuchtet, gehen die Leute noch lange nicht. Von den Arkaden am Untermarkt geschützt, folgen sie Jesus auf seinem Leidensweg, auch wenn sie die Bilder auf der Leinwand statt original sehen.